Sie brauchen nicht auf den Verkehr zu achten, denn es gibt keinen!
So lautete das verlockende Versprechen eines Island-Prospekts, und das wollten wir unbedingt überprüfen. Zumindest ausländische Biker haben wir auf Island nicht getroffen, während der ganzen vier Wochen im September nicht. Einige einheimische Motorradfahrer begegneten uns, aber keine Landsleute. Vielleicht waren die im Hochland, da, wo wir uns nicht hinwagten. Zu viele Flussüberquerungen gibt es dort, und dafür fehlt uns die Erfahrung. Wir begnügten uns mit einer ausgiebigen Inselumrundung, denn auch dort gibt es genügend Schotterstrecken und wunderschöne Landschaften zu entdecken.
Island, ein lange geträumter Traum, endlich wird er wahr. Das Hinkommen ist gar nicht so einfach. Einer 1000-Kilometer-Autobahnanfahrt folgt eine dreitägige und kostspielige Fährpassage, und wer Pech hat, erlebt einen dieser gefürchteten Atlantikstürme, da können auch die Stabilisatoren nichts gegen die aufkommende Seekrankheit ausrichten. Ankommen tut man trotzdem, die „Norröna“ ist modern und komfortabel.
Wir beginnen unsere Inselerkundung in Seydisfjördur, da, wo jeder Islandreisende seinen Zollaufkleber aufs Fahrzeug bekommt, wenn er nicht mit dem Flieger anreist. Wir haben nichts zu verzollen, und die Einreise geht schnell und problemlos. Nur noch die Uhren zwei Stunden zurückgestellt, dann kann das Abenteuer beginnen.
Eins vorweg: Das Wetter hat uns positiv überrascht, denn es war wesentlich besser, als wir es erwartet hatten. Es war trockener als befürchtet, häufig wechselhaft und erfreute uns immer wieder mit blauem Himmel und Sonnenschein. So auch bei unserer Ankunft. Die gut asphaltierte Straße führt in weiten Serpentinen auf ca. 700 Meter und bietet die ersten phantastischen Weitblicke.
Der Nordosten Islands ist geprägt von weiten Ebenen, Taleinschnitten und Tafelbergen. Die winzigen Ortschaften an der Küste liegen 30, 40, 70 oder noch mehr Kilometer auseinander. Dazwischen nur Berge, das Meer und wir. Manchmal ein paar Schafe.
Die Straßen bieten wechselnden Belag, vom rauen Asphalt bis zum tiefen Baustellenschotter ist alles dabei. Es gibt längere unbefestigte Abschnitte, die meist zweispurig, eben und gerade sind. 80 km/h dürfen wir dort fahren, auf Asphalt sind maximal 90 km/h erlaubt. Wir fahren jedoch häufig deutlich langsamer, denn die Schönheit der Landschaft zieht uns in ihren Bann.
Man muss sie allerdings mögen, die Einöde, die Kargheit und Einsamkeit. Vegetation gibt es kaum, wurden doch die Birkenwälder schon vor Jahrhunderten abgeholzt, und das mitgebrachte Vieh der Siedler vernichtete einen Großteil der Pflanzendecke. So bläst der Wind meist ungehindert über die Wüsten aus Tuffgestein und weht jedes Samenkorn, das versucht, hier zu wurzeln, unbarmherzig hinfort.
Die Tankstellen der Orte mit ihren 100 bis 400 Einwohnern haben manchmal nur zwei Stunden am Tag geöffnet, was aber dank der Prepaid-Karten, die wir zu je 5000 ISK kaufen können, kein Problem darstellt. Etwas schwieriger ist die Quartiersuche, auf Tourismus ist man hier im äußersten Nordosten offenbar nicht eingerichtet. Unsere erste Station ist Pórshöfn, wir kommen in einer Privatpension unter. Frühstück gibt es keins, dafür ist das Zimmer klein und der Preis hoch. Dusche und WC liegen auf dem Gang und müssen mit fünf weiteren Zimmern geteilt werden. Aber so ist Island, an die happigen Preise für geringe Gegenleistungen müssen wir uns gewöhnen, immerhin befinden wir uns im zweitteuersten Land der Welt. Wenigstens bekommen wir das beste Wasser der Welt kostenlos, denn das fließt in Island aus jedem Wasserhahn.
Auch der Wind ist gewöhnungsbedürftig. Er ist unser ständiger Begleiter, und in oft heftigen Böen versucht er, die Motorräder in den Straßengraben oder die Gegenfahrbahn zu drängen. Windstille Tage gibt es aber auch.
Eine unwirkliche Berggegend erwartet uns auf der Fahrt nach Raufarhöfn. Die Schotterpiste steigt an, die Temperatur fällt auf fünf Grad, es nieselt. Unter diesen Bedingungen ersparen wir uns einen Blick auf den Höhenmesser. Nur eine Kurve weiter ein ganz anderes Szenario, die Straße fällt steil hinab zur Küste, die tiefen schwarzen Wolken bleiben in den Bergen zurück. Graue Wellen schlagen uns entgegen, die Piste verläuft kilometerweit direkt am Meer. Kein Auto begegnet uns, keine Menschenseele, nur Schafweiden und uraltes Treibholz. Die Berge posieren im Hintergrund.
Mit Husavik erreichen wir die erste größere Siedlung, hier können wir uns stärken und, wenn wir wollen, eine Walsafari machen. Wollen wir aber nicht, denn das gute Wetter lockt uns weiter. Die Straßen bis zum Myvatn sind asphaltiert, und wir lassen es laufen, zwischen Lavafeldern hindurch. Vor uns erheben sich Vulkankegel und Pseudokrater, Dampfwolken schießen aus der Erde, sind kilometerweit sichtbar. Dieses Geothermalgebiet ist eines der aktivsten, nicht nur auf der Insel, sondern auf der ganzen Welt.
Wir erleben, wie der Mückensee zu seinem Namen kam: Wolken von kleinen Mücken umlagern uns, sobald wir stehen bleiben, fliegen in den Helm, krabbeln überall hinein. Wenigstens stechen sie nicht.
Am Myvatn mieten wir eine Holzhütte für zwei Nächte, die Motorräder parken auf schwarzem Lavasand. Hunderte Schwäne tummeln sich auf dem See, der mit der Myvatn-Forelle eine Spezialität bietet: Auf Wacholder geräuchert, schmeckt sie besonders würzig.
Die Stille am See ist phantastisch, kein Mensch ist hier, das Himmelsblau spiegelt sich im klaren Wasser. Wir kraxeln zwischen bizarren Lavaskulpturen hindurch, stehen am Ufer und sind wunschlos glücklich. Wenige Kilometer südlich erhebt sich Hverfjall, der größte Krater Islands.
Die Nachmittagssonne steht tief, wir werfen meterlange Schatten, bis plötzlich Nebel über die Kraterhügel gekrochen kommt und die Landschaft verschluckt. Am nächsten Morgen nieselt es, wir brechen trotzdem zu unserer Tagestour auf, wissen wir doch, dass das Wetter nach der nächsten Kurve ganz anders sein kann. Und tatsächlich, nach einigen Kilometern reißt der Himmel auf, Regenbogen erfreuen uns mit ihrer flüchtigen Schönheit.
Wir fahren die Ringstraße Nr. 1 ein Stück nach Osten bis auf ca. 600 Meter Höhe, umgeben von schwarzen, kegelförmigen Bergen inmitten eines riesigen Lavafeldes. Hier stehen wir im Wind und genießen das Dasein in dieser Ur-Natur.
Wir wagen einen Abstecher über eine Wellblechpiste, die Nr. 864 zum Dettifoss. Die Panoramablicke über die unendlich weite Landschaft um uns herum können wir jedoch nur genießen, wenn wir stehen bleiben, denn die üble Strecke erfordert unsere ganze Konzentration. Trotz der zahlreichen Schlaglöcher und Bodenwellen, die nicht nur den Fahrwerken unserer Motorräder viel abverlangen, begegnen uns einige Touristen in gemieteten Kleinwagen. Sie alle wollen zu Europas wasserreichstem Wasserfall, der ein wahrlich beeindruckendes Schauspiel bietet. 200 Kubikmeter Wasser donnern pro Sekunde in den Canyon, den der Jökulsá á Fjöllum auf seinem langen Weg vom Hochland zum Nordmeer gegraben hat. Die gewaltige Gischtwolke ist schon von weitem sichtbar.
Ebenso beeindruckend ist das Sulfatarenfeld Namaskard, wo wir die Erde in ihrem Urzustand erleben. Hier blubbert und brodelt es, kochender Schlamm in schillernden Farben, Dampf entweicht zischend aus tiefen Spalten. Der Gestank der Schwefelquellen ist fast unerträglich, und wir verwerfen den aus Faulheit geborenen Gedanken, direkt am Eingang zu parken. Den Fotoapparat lasse ich im Tankrucksack, denn Fotografieren ist gefährlich, die Schwefeldämpfe könnten die Optik verderben.
Gleich nebenan führt eine gut asphaltierte Stichstraße in das Krafla-Vulkangebiet. Vorbei am Geothermal-Kraftwerk steigt sie an auf etwa 600 Meter und endet am Krater Helvíti, in dessen 320 Meter großen Kratersee das Wasser blaugrün schimmert. Der letzte Ausbruch in der Gegend war 1984, der nächste kann jederzeit erfolgen.
Milchig-blau und 40 Grad warm ist das heilkräftige Wasser der „Grünen Lagune“, dessen Besuch schon alleine wegen seiner phantastischen Aussicht auf den Myvatn lohnt. Nicht so überlaufen wie die berühmte „Blaue Lagune“, bietet ein Bad in der naturbelassenen Lavagrube inmitten der unwirklichen Vulkanlandschaft Entspannung pur.
Wieder zurück am Myvatn, raubt uns ein gigantischer Sonnenuntergang den Atem. Der Himmel steht in Flammen, die Wolken hellorange bis glutrot eingefärbt, so haben wir das noch nie erlebt. Am nächsten Tag regnet es wieder.
Aber nicht lange, dann scheint uns erneut die Sonne ins Gesicht. Südlich des Eyjafjordes bleiben die Regenwolken in den mächtigen Gletscherbergen hängen. Traumhaft schön ist es am Fjord, dafür beutelt uns heute der Wind. Er ist so stark, dass wir während der Tankpause in Akureyri Zuflucht hinter dem Tankstellengebäude suchen, das uns ein wenig Windschatten bietet.
Auf der Weiterfahrt Richtung Norden haben wir den Wind im Rücken, jetzt macht das Fahren wieder richtig Spaß. Der Norden ist traditionelles Pferdezuchtgebiet, und riesige Herden von 50 oder mehr Tieren weiden auf den morastigen Wiesen an den schmalen Küstenstreifen. Mehrfach scheuchen wir im Vorbeifahren Wildgänse auf, die sich in ungeheuren Mengen auf den Wiesen versammelt haben und beim Auffliegen den Himmel verdunkeln.
Die Berge entlang des Eyjafjordes, geformt von eiszeitlichen Gletschern, erinnern an Norwegen, und wir genießen das traumhafte Panorama, bis uns ein Tunnel verschluckt. Ein Einspurtunnel mit Ausweichen, dunkel, kalt und feucht und mit Spurrillen so tief, dass es schwer fällt, ohne Schlangenlinien geradeaus zu fahren. Wir sind froh, als er uns nach knapp vier Kilometern wieder ausspuckt.
Die Landschaft ändert sich, als die Straße bei Olafsfjördur einen Knick nach Westen macht. Ein Bergpass liegt vor uns, kein Asphalt, sondern schlammiger Belag, der jedoch trotz der Nässe recht guten Grip bietet, und wir lassen es bald zügig angehen. Wir sind umgeben von sanft gerundeten Bergkuppen und einsamen grünen Tälern, durch die sich wilde Gebirgsbäche stürzen. Die Straße steigt zwar nur bis auf ca. 400 Meter an, doch so nah am Polarkreis fühlt sich das nach mehr an. Die Berge um uns haben über 1000 Meter, oben liegt Schnee. Der Wind pfeift ungehindert über die Kuppen. Vor uns bauen sich drohende schwarze Wolken auf, dennoch findet ein Sonnenstrahl immer wieder seinen Weg hindurch und lässt alles in intensiven Farben aufleuchten.
40 Kilometer einsame Berglandschaft liegen vor uns, und so sind wir auch völlig auf uns alleine gestellt, als uns plötzlich eine Panne ereilt. Genau bei Kilometerstand 80.000 zieht der Anlasser der Tiger nicht mehr durch. Die von uns so sehr herbeigesehnte Einsamkeit wird nun zum Fluch, denn niemand kommt vorbei, der uns helfen könnte. Einen Einspritzer mit Batterieschaden anzuschieben geht nicht, denken wir, wir versuchen es trotzdem, und nach vier Versuchen können wir die Tiger an einem Gefällestück wieder zum Laufen bringen. Ein kleines bisschen Strom für die Benzinpumpe ist noch vorhanden, aber die Software arbeitet auf einem Notprogramm, nach und nach fallen sämtliche elektronischen Funktionen aus. Der Motor läuft mit viel zu hohen Drehzahlen, ruckelnd bringe ich die Tiger irgendwie über die Schlaglöcher und Schlammfurchen, kann dadurch die wunderschöne Landschaft nicht genießen. Als wir die asphaltierte Küstenstraße nach Siglufjördur erreichen, bleibt die Tiger endgültig stehen. Ein Wiederbelebungsversuch mit dem Starthilfekabel eines hilfsbereiten Isländers bringt nur für zwei Minuten Erfolg.
Es hilft alles nichts, wir müssen die Tiger zurück lassen. Ein anderer freundlicher Isländer transportiert mein Gepäck bis zum nächsten Ort, ich fahre als Sozia auf der Scrambler bis Siglufjördur mit. Ein am Abend aufkommender Sturm lässt uns unruhig werden, die Tiger alleine am Straßenrand, was, wenn der Wind sie umbläst? Wieder hilft uns ein Isländer. Mit einem Hänger holt er die Maschine ab, nimmt dafür 50 Kilometer sturmumtoste Landstraße in Kauf und will noch nicht einmal etwas dafür haben. Er ist selbst Motorradfahrer und weiß, wie es ist, wenn man Hilfe braucht. Wir geben ihm wenigstens etwas fürs Benzin und dürfen die Maschine für die Nacht in der Feuerwehrhalle unterstellen.
In Akureyri besorgen wir eine neue Batterie, die unser freundlicher Helfer organisiert hat. Das kostet uns einen Tag, und wir sind froh, die Fahrt am übernächsten Tag fortsetzen zu können. Wir kommen genau 50 Kilometer weit.
Auf einem Parkplatz mit phantastischem Küstenblick macht die Tiger keinen Mucks mehr. Jetzt ist guter Rat teuer, denn einen ADAC oder Triumph-Händler gibt es auf Island nicht, und ein Ort oder eine Werkstatt ist nicht in Sicht. Selten kommt an diesem Sonntagnachmittag mal ein Fahrzeug vorbei, und keines von denen, die wir anhalten, hat ein Starthilfekabel dabei. Der Wind zerrt an uns, die Panne an unseren Nerven. Wenigstens regnet es nicht.
Die Rettung kommt schließlich in Gestalt eines Lastwagenfahrers. Mit seinem Handy erreicht er einen Auto-Mechaniker, und mit dessen Starthilfe schaffen wir es gerade so in seine Werkstatt in einem winzigen Fischerdorf namens Hofsos. Neun Tage sitzen wir dort fest, denn die Batterie war es nicht. In der gut ausgestatteten Auto- und Landmaschinen-Werkstatt können wir die Elektrik checken, und nach intensiver Fehlersuche, bei der unser Triumph-Händler per Telefon hilft, entdecken wir einen durchgeschmorten Lichtmaschinenstator als Übeltäter.
Das Entsetzen ist groß, als wir erfahren, dass das Teil in Deutschland momentan nicht lieferbar ist. Auf Drängen unseres Händlers erklärt Triumph sich bereit, einen Stator aus einer Lagermaschine in England auszubauen. Der ADAC organisiert den Versand, und wir sind heilfroh, als wir das Paket am Flughafen in Reykjavik abholen können. Das Gefühl ist unbeschreiblich, als die Tiger wieder einwandfrei läuft. Dennoch, die Panne hat uns insgesamt elf Tage gekostet, und ohne die Hilfsbereitschaft der Isländer und deren unbürokratischem Verhalten hätte es noch ein wenig länger gedauert.
Weniger als zwei Wochen bleiben uns noch, die urwüchsige und abwechslungsreiche Landschaft der Insel im Atlantik zu erleben. Eine Schotterpiste bringt uns in die Westfjorde.
Tief schneiden die Fjorde in das Land ein, an den Küsten ist nur wenig Platz für die Straße. Schroff und kahl steigen die schwarzen Basaltberge bis zu 1000 Meter aus dem Meer empor. Im Hintergrund thront ein Gletscher auf dem Hochplateau.
Diese Halbinsel mit dem westlichsten Zipfel Europas ist eine Welt für sich, noch geringer besiedelt als der Rest der Insel. Nur knapp 300 Kilometer Luftlinie trennen uns von der Küste Grönlands. Sogar der Wind scheint hier stärker zu blasen, es ist kaum möglich, die Motorräder bei den orkanartigen Böen in der Spur zu halten. Heftig branden die Wellen an die Felsen. Je nachdem, wie wir die langen Buchten ausfahren, haben wir mal Gegen- und mal Rückenwind. Mit jedem Meter werden die Fjorde schöner und gewaltiger, mit einem Grinsen unterm Helm fahren wir an ihren Ufern entlang. Auf einer Anhöhe mit rutschigem Schotter-Belag ändert sich plötzlich das Wetter, dichter Nebel behindert die Sicht, und die Finger werden klamm. Das Fahren auf dem tiefen nassen Schotter mit dem starken Wind, der uns zur Seite drücken will, ist ein Abenteuer für sich. Hinter der nächsten Kuppe scheint wieder die Sonne.
Eine Besonderheit ist der neun Kilometer lange T-Tunnel unter der Breidadalsheidi. Erst 1996 erbaut, erspart er den Menschen nun die beschwerliche Bergüberquerung. Schneelawinen sind im Winter aber auch heutzutage noch ein Problem, denn viel zu dicht sind die kleinen Ortschaften an die steilen Berghänge gebaut. Die Westfjorde bieten nicht viel Raum für Besiedlung.
Noch eine letzte Höhe, eine letzte Fjordumfahrung, ein letzter Kampf gegen den Wind, dann erreichen wir Pingeyri. Das neu erbaute Hallenbad mit seinem Hotpot ist eine Wohltat nach einem Tag in der Kälte.
Wir treffen auf ausländische Ingenieure, die in der Umgebung Gesteinsproben nehmen, denn in naher Zukunft sollen noch weitere Tunnel entstehen. Vielleicht helfen sie, die Gegend neu zu besiedeln, denn seit Jahren ziehen sich die Menschen aus den Westfjorden zurück. Noch karger, noch rauer, noch kälter und noch einsamer ist es hier, als es ohnehin schon auf Island ist.
Dafür ist die Natur noch weitgehend unberührt. Viele Tiere und Pflanzen, die es anderswo auf der Insel längst nicht mehr gibt, haben auf der Halbinsel ihr Rückzugsgebiet gefunden. In manchen Wintern wurden dort sogar Eisbären gesichtet, die mit dem Packeis von Grönland an die isländische Küste getrieben wurden.
Nachdem die Temperaturen mit sieben bis 13 Grad bisher recht konstant geblieben waren, und mit 16 bis ungewöhnlichen 18 Grad Mitte September einen kurzen Höhepunkt erreicht hatten, sind es am nächsten Morgen nur noch zwei Grad, und die Gipfel der Berge sind mit Neuschnee bedeckt. Der kräftige, milde Südwind hat pünktlich zum Herbstanfang gedreht und weht nun stramm von Nordost. Das ist Island.
Mit diesem kalten Gruß aus dem Norden verlassen wir die Westfjorde über die Tröllatungaheidi. Die Nummer der Passstraße über diese Hochfläche ist dreistellig, und dreistellige Straßennummern, das haben wir inzwischen gelernt, bedeuten, dass es sich um eine sehr schlechte Wegstrecke handeln kann. So ist es auch, wie uns ein Warnschild signalisiert. Für uns als unerfahrene Geländefahrer stellt sie durchaus eine Herausforderung dar. Die Piste ist steinig, schlammig, eng und steil. In den ausgewaschenen Fahrrinnen der Kehren liegen lose Knollensteine. Die tiefen Pfützen, die uns den Weg versperren wollen, sind mit dem Eis der vergangenen Frostnacht bedeckt. Wir gehen es beherzt an und werden belohnt. Der Himmel ist absolut wolkenlos, und es scheint eine gleißend helle Sonne. Es knirscht und kracht, wenn die Vorderräder die vereisten Wasserstellen aufbrechen. Bis auf 520 von uns gemessene Höhenmeter zieht sich der Pfad hinauf. In der kalten klaren Luft haben wir einen phantastischen Fernblick auf den Snaefellsjökull. Diesen gletscherbedeckten Kegelvulkan, in dem Jules Verne seine „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ beginnen ließ, müssen wir uns mal aus der Nähe ansehen.
Auf der Snaefellsnes-Halbinsel erlebt der Reisende zwei völlig unterschiedliche Landschaftsformen: Breite Ebenen mit zahlreichen Seen im Süden und eine spektakuläre Fjordszenerie im Norden. Dazwischen erstreckt sich über die gesamte Halbinsel eine markante Bergkette, an deren westlichem Ende sich jener mystische Vulkan erhebt. Ständig werden wir an die explosive Entstehungsgeschichte dieser Landschaft erinnert, denn die Fahrt führt oft durch große Lavafelder und vorbei an rotbraun schimmernden Kratern, die sich zum Teil besteigen lassen.
Vor lauter Gucken, Staunen und Genießen lassen wir es langsam angehen, obwohl die gut ausgebaute, übersichtliche und verkehrsarme Asphaltstraße dazu verleitet, schneller als erlaubt zu fahren. Wie gut, dass wir es nicht taten, sonst hätte uns die Radarfalle erwischt, die erste, die wir auf der Insel sahen.
An der Westküste führt die Straße am Fuße des majestätischen Snaefellsjökull entlang und geht dort für mehrere Kilometer in Schotter über. Wie immer warnt ein Schild vor dem Übergang, und wir haben die Wahl: Entweder langsam fahren und Berge gucken, oder aber das erlaubte Höchsttempo fahren und auf die Straße konzentrieren. Ich versuche, schnell zu fahren und in der Gegend rumzugucken, was prompt bestraft wird. Ich gerate auf den mit tiefen Schotter belegten Mittelstreifen, mein Motorrad fängt mächtig an zu schlingern, ich verliere die Kontrolle und gerate auf die Gegenfahrbahn, wo ich die Tiger mit klopfendem Herzen endlich abbremsen kann. Also wieder langsam fahren und die Landschaft genießen. Dennoch geht die faszinierende Rundreise um die Snaefellsnes-Halbinsel viel zu schnell zu Ende.
Die Straße Nummer 48, eine weitere reizvolle Schotterstrecke, die einen Umweg auf Asphalt durch die Berge abkürzt, bringt uns an den Pingvalla Vatn, Islands größter Binnensee und jenes geschichtsträchtige Gewässer, an dessen Ufer im Jahre 930 das erste isländische Parlament zusammenkam und 1944 die unabhängige Republik Island ausgerufen wurde. Viel interessanter finden wir jedoch die geologische Geschichte dieses Ortes, verläuft doch genau hier jene Spalte, die Europa von Amerika trennt und die Fortsetzung des mittelatlantischen Rückens darstellt. Wir fahren vorbei an Vulkankegeln, Lavafeldern und Erdspalten, riechen Schwefel und sehen Dampfsäulen und sogar einen Schildvulkan, wie er sonst nur noch auf Hawaii vorkommt.
Von hier ist es nicht mehr weit bis zur berühmtesten aller heißen Springquellen. Wir sahen schon aus der Ferne das dampfende, brodelnde, zischende Feld voll von kochenden und sprudelnden Wasserlöchern. Im Hintergrund die blauschwarzen Berge des Hochlandes, und darüber der mächtige Firn des Langjökull. Eine herrliche Kulisse hat der von den Touristen außerordentlich beliebte Geysir sich für seine Ausbrüche ausgesucht. Leider tut er es nicht sehr oft, dafür liefert sein kleinerer Bruder Strokkur alle paar Minuten dieses beeindruckende Spektakel.
Auf dem weiteren Weg treffen wir einen isländischen Biker, der mit seiner Suzuki Bandit 1200 extra unseretwegen anhält. Ausländischen Motorradfahrern begegnet er nicht so oft, und er erzählt uns, dass er das gute Wetter für eine letzte Tour ausnutzt, denn Anfang Oktober ist es hier mit der Motorradsaison vorbei. Vor 20 Jahren, so erzählt er, war es schon Mitte September soweit.
Wir haben noch ein paar Tage Zeit, ehe der Schnee sich auf die Passstraßen legt und uns vertreibt. Kalt ist es jetzt schon, und da kommt uns ein heißes Bad in der berühmten „Blauen Lagune“ gerade recht. Dass es dabei regnet, stört uns nicht, aber für unseren Geschmack sind zu viele Menschen hier.
Das ändert sich, als wir die Südküste zwischen Vik und Höfn erreichen. Die Brücken über die zahlreichen Gletscherabflüsse sind einspurig, doch gibt es kaum Gegenverkehr, den man passieren lassen müsste. Vielleicht gibt es deshalb noch immer einige Schotterabschnitte auf der Ringstraße Nummer 1, doch wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis die letzten Lücken geschlossen sind.
Wir sind fast völlig alleine in dieser urtümlichen Gegend, die mit ihren riesigen schwarzen Sanderflächen so ganz anders ist als alles, was wir bisher auf Island gesehen haben. Über allem thront Europas größter Gletscher, der Vatnajökull. Viele seiner Gletscherzungen reichen bis in die Ebenen und manchmal sogar fast bis an die Straße hinab.
Wir fahren und fahren und scheinen kaum einen Meter vorwärts zu kommen, denn die Landschaft ändert sich auch auf 200 Kilometern nur wenig. Links die unendlich erscheinende Kette schwarzer, schneebedeckter Berge mit zahlreichen Wasserfällen, Seen und Flüssen, davor die Sander, hunderte von Quadratkilometern groß, gebildet durch das Schmelzwasser der nacheiszeitlichen Gletscherströme. Rechterhand das Meer, wo sich in der Ferne die markanten Berge der Westmänner-Inseln auftürmen.
Kaum etwas erinnert daran, dass sich unter dem ewigen Eis des Vatnajökull aktive Vulkane befinden, außer einem verbogenen Stahlträger am Straßenrand. Er gehörte zu einer Brücke, die beim letzten Ausbruch mitsamt der Straße fortgerissen wurde. Wir finden es erstaunlich, dass in diesen lebensfeindlichen Steinwüsten, in denen das Wasser sich ständig neue Wege sucht, überhaupt eine Straße gebaut werden konnte.
Was uns dann wirklich die Sprache verschlägt, ist die Gletscherlagune Jökulsárlón. Mächtige Eisbrocken treiben auf dem See. Im Hintergrund der Vatnajökull, der mit seiner Gletscherzunge Breidamerkurjökull ständig Eisnachschub liefert. Schweigend lauschen wir dem Knacken des Eises, manchmal brechen größere Stücke ab und stürzen mit Getöse hinab, ansonsten ist es vollkommen still. Das Wasser ist glasklar, die Luft riecht eigentümlich frisch. Unsere Motorräder parken nur wenige Meter entfernt am Steilufer, so nah sind wir dem ewigen Eis bisher noch nie gekommen.
Es fällt uns schwer, der faszinierenden Landschaft rund um den Vatnajökull den Rücken zu kehren, doch warten noch die Ostfjorde auf ihre Erkundung. Uns bleiben nur noch wenige Tage, und die Fähre, die wartet nicht.
Die Küstenlandschaft mit ihren vielen Fjorden und den hohen, zerklüfteten Bergrücken erinnert an die Westfjorde, doch sind die Ostfjorde längst nicht so einsam. Einen großen Anteil am Bevölkerungswachstum hat die Aluminiumhütte, die derzeit in Reydarfjördur errichtet wird. Vom Oddsskardpass, der höchsten Passstraße Islands, haben wir einen guten Blick über diese gigantische Baustelle. Ein auf 632 Metern Höhe gelegener Einspurtunnel erspart uns die restlichen Höhenmeter über eine rotbraune Schlammpiste. Unsere Motorräder sind auch so schon von oben bis unten mit einer dicken Schlammkruste bedeckt.
Unsere letzte Station ist Neskaupstadur, wo wir uns eine Übernachtung im Hotel gönnen. Von außen mit der Optik einer Bretterbude versehen, bietet es innen modernen Standard und vor allem eine gemütliche Bar mit Bierausschank. Es ist zwar nur Flaschenbier, doch darf man auf Island nicht anspruchsvoll sein, sondern muss froh sein, überhaupt Bier trinken zu dürfen, denn das ist erst seit den 90er Jahren wieder erlaubt. In den Supermärkten wird jedoch nur Leichtbier verkauft, und die Bars in den kleinen Ortschaften, sofern es überhaupt eine Bar gibt, sind manchmal nur an zwei Abenden pro Woche geöffnet. Wer ein besseres Angebot will, muss nach Reykjavik. Dasselbe gilt für das weitere Sortiment in den Märkten, die zwar vom Hufeisen über die Wollmütze bis zum Frischfleisch alles Lebensnotwendige anbieten, jedoch nur in begrenzter Auswahl und Menge.
Dafür hat fast jeder Ort, so klein er auch ist, ein eigenes Schwimmbad mit einem Hot Pot. Diese wohltuenden heißen Bäder werden wir vermissen, so wie wir die Leere und Weite der isländischen Landschaft vermissen werden, und die Ausblicke, die uns diese phantastische Insel im Atlantik bot: Schwarze Sandwüsten vor vergletscherten Vulkanbergen, moosbewachsene Lavafelder, smaragdfarbene Kraterseen, tief eingeschnittene Fjorde, gigantische Wasserfälle und vieles mehr.
Es wird wirklich Zeit für uns, die Insel zu verlassen, denn in wenigen Tagen werden Eis und Schnee, der nicht geräumt wird, die Passstraße nach Seydisfjördur blockieren. Von anderen Reisenden erfahren wir, dass einige Hochlandstrecken jetzt schon, Ende September, unpassierbar sind, und wer es dennoch versuchte, blieb im Schnee stecken.
Über 4000 teils vergnügliche, teils abenteuerliche Kilometer liegen nun hinter uns. Wir haben dabei nicht sehr auf den Verkehr geachtet, denn es gab kaum welchen.
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